Dr. Jeannot Simmen hat das kulturhistorische Standardwerk „Der Fahrstuhl“ geschrieben, seit mehreren Jahrzehnten beschäftigt er sich mit der Vertikalen in der Kunst. Im zweiten Teil unseres Interviews erzählt der Kolumnist von Senkrechtstarter, wie der Aufzug in die Welt kam.
Herr Simmen, Mitte des 19. Jahrhunderts nahm der Aufstieg des Fahrstuhls seinen Lauf…
Wichtig war die Erfindung der automatischen Sicherheitsbremse durch Elisha Graves Otis. Der arbeitete in einer Bettfedernfabrik, in der ein Unfall passierte. Weil er Ingenieur war, wurde er gebeten, sich eine Lösung zu überlegen. Seine Idee: Eine Feder, die einen Mechanismus auslöst, der sich in den hölzernen Führungsschienen verhakt, wenn das Aufzugsseil reißt. Wohl ist man „in der Luft“ gefangen – aber: kein Absturz!
Im Bergwerk, wo der Aufzug damals vor allem zum Einsatz kam, wäre ein Absturz fatal gewesen.
In mehrfacher Hinsicht: Erst wäre man unten aufgeprallt, dann wäre die Schacht-Umwehrung auf einen eingeprasselt, anschließend hätte einem das Seil einen Peitschenhieb verpasst und letztlich wäre man im Grubenwasser ersoffen. Es war schwierig für die Bergarbeiter, Vertrauen in die neue Apparatur zu haben.
Was war damals der nächste Meilenstein?
Die Treibscheibe. Carl Friedrich Koepe, ein Ingenieur aus dem Rheinland, hat sich als Erster gefragt: Wie kann man die Mechanik vereinfachen? 1877 nahm er eine Treibscheibe und legte das Seil darüber. Dieses wurde nicht mehr auf einer Trommel aufgewickelt. Auf der einen Seite hing der Fahrstuhl, um Menschen und Tiere nach unten ins Bergwerk zu befördern, auf der anderen Seite das Gegengewicht oder eine Kabine. Eine Abbildung vom Woolworth-Building zeigt den Mechanismus, der viele Vorteile bringt: Mehrere parallele Treibscheiben erhöhen die Sicherheit durch Vielseilbetrieb und reduzieren den Kabelverschleiß; das mechanische Ensemble wird vereinfacht, die Seillänge halbiert…
Die nächste epochale Erfindung?
Das war 1880 der elektrische Kletteraufzug von Werner von Siemens und Johann Georg Halske. Die Dampfmaschinen waren enorm unpraktisch. Denn Dampfmaschinen brauchten einen Aufseher, der überprüfte, dass der Druck nicht zu hoch wurde. Ohne ihn ging nichts. Mit der Elektrizität hatte man zum ersten Mal eine Apparatur, die Tag und Nacht ohne Betreuung sicher laufen konnte. Damals war das sensationell.
In den folgenden Jahrzehnten war der Fahrstuhl essentiell für die Geburt des Hochhauses. In Berlin etwa wurde erst erlaubt, eine fünfte Etage zu bauen, als der Aufzug erfunden war. Inzwischen sind die USA dem „alten“ Europa allerdings weit voraus, was vertikales Bauen betrifft. Wieso?
In Europa galt lange ein Art von Verbot: Kein Haus durfte größer als der Kirchturm sein. Er verbindet Himmel und Erde, bildet die vertikale Achse. In den USA war man unbelastet. Da ging es ums Sozialprestige. Wer den höchsten Turm hat, ist der reichste Mann. Und was machbar ist, wird gemacht. Heute sieht man dies in der der ehemals „Dritten Welt“: Dort werden die höchsten Hochhäuser und Aufzugsanlagen gebaut. In Deutschland hatten wir dieses Phänomen in Frankfurt am Main, in den 1980er-Jahren. Unter den Banken ging es darum, wer den größten hat. Den größten Turm… Nach der Wende wurde auch am Potsdamer Platz damit triumphiert.
Eine heute eher skurril anmutende Form des Fahrstuhls ist der Paternoster…
Bin in die 1960er-Jahre war er der schnellste Aufzug, schließlich kommt jede Sekunde eine neue Kabine vorbei. Ursprünglich war der Paternoster von England über Hamburg nach Deutschland gelangt. In Hamburg war man von den Schiffen gewohnt, aufzuspringen und sich hinüberzuziehen. Aber heute leben wir in einer automatisierten Welt, die Türen funktionieren selbsttätig – und das ist auch gut so. Nur noch Nostalgiker fahren im beschwingten Paternoster.
Sind Sie selbst Nostalgiker?
Nein, moderne Technik finde ich großartig. Je moderner, desto besser. Ich liebe Erfindungen und vor allem neue Erfahrungen.
Ist heute noch Platz für Innovationen im Fahrstuhlschacht?
Die Aufzugtechnik ist eine ausgereifte Chose, da optimieren kleine Erfindungen, meist die Bequemlichkeit. Optimierungsstrategien gibt es trotzdem: Geringerer Energieverbrauch, schnellere und sicherere Türen. Und man kann sich noch überlegen, was man mit dem Inhalt der Kabine machen will.
1998/99 haben Sie selbst einen Wettbewerb unter Studenten initiiert. Gefordert war eine innovative Gestaltung der Aufzugskabine als Kommunikation zur Architektur.
Einige der Ideen sind seitdem realisiert worden. Etwa dass man unten auf einem Display den Firmennamen antippt und der Aufzug weiß, in welchen Stock man möchte, bis hin, dass der Empfang eine Information erhält. Oder Kabinen-Boden oder -Decke als Flachbildschirme, eine Imagination vom Sternenhimmel oder einer Fahrt bis zum Erdmittelpunkt.
Man kann auch die Wände interaktiv mit Medien bestücken, die Fahrt durch die Etagen dartellen. Aber bei aller Ablenkung: Eigentlich will niemand, dass mehr als 100 Sekunden vergehen zwischen Einstieg und dem Erreichen des Stockwerks. Die Fahrt ist immer noch mit einer gewissen Angst verbunden – man ist eingeschlossen und einer (allerdings sicheren) Maschinerie ausgeliefert.
Dr. Jeannot Simmen ist Autor, Ausstellungs- und Büchermacher. Er lehrte Kunst und Design an Universitäten in Berlin, Kassel, Wuppertal und Essen und ist Gründer sowie Vorsitzender des Club Bel Etage in Berlin, einem Ort kulturellen Austauschs und kreativer Initiativen.
Von Simmen stammen unter anderem die Bücher Der Fahrstuhl. Die Geschichte der vertikalen Eroberung und Vertikal. Aufzug – Fahrtreppe – Paternoster. Eine Kulturgeschichte vom Vertikal-Transport.
In der vergangenen Woche präsentierten wir den ersten Teil des Gesprächs mit Jeannot Simmen, der in seiner Kolumne „Völlig von Simmen“ monatlich für Senkrechtstarter schreibt.
Der Beitrag „Elektrischer Antrieb? Damals sensationell.“ erschien zuerst auf Senkrechtstarter.